Stiftung Warentest hat im Heft 8/2024 zehn Kinder-Fahrradanhänger getestet. Durch die Überschriften “Gefahren für Kinder und Umwelt” und “Totalausfall” entsteht der Eindruck, es sei gefährlich, Kinder im Fahrradanhänger mitzunehmen (Testergebnisse kostenpflichtig; Zusammenfassung der Ergebnisse bei SWR3). Wir haben uns den Test genauer angeschaut und ordnen die Ergebnisse ein, anhand von wissenschaftlichen Untersuchungen, Informationen des Bundes-Umweltministeriums und von unseren eigenen Erfahrungen.
Sehr geringe Unfallzahlen mit Kindern im Fahrradanhänger
Im Jahr 2020 gab es 69.765 polizeilich erfasste Unfälle mit Fahrradbeteiligung. Davon betrafen 14 Unfälle ( = 0,02% aller Fahrradunfälle) korrekt mitgenommene Kinder im Anhänger. Diese wurden fast ausschließlich nur leicht verletzt. Korrekt mitgenommen bedeutet: Fahrer älter als 16 Jahre, Kind 0-7 Jahre, Kind richtig im Sitz angeschnallt.
Zum Vergleich: 48 Unfälle mit Fahrrad-Kindersitz, 7 mit Lastenrad.
Die Zahlen stammen aus einer Studie der Unfallforschung der Versicherer (Seite 6 + 7).
Die Unfallzahlen geben es also nicht her, dass es ein besonderes Risiko für Kinder im Fahrradanhänger gibt.
Grund für die schlechte Warentest-Bewertung: Schadstoffe (v.a. PFAS)
In allen getesteten Anhängern wurden Schadstoffe gefunden, teilweise in Konzentrationen über Richtwerten oder Grenzwerten von EU-Verordnungen. Chemikalien aus der Gruppe der PFAS waren in allen Anhängern nachweisbar und befanden sich im Schiebegriff, in der Sitzfläche, den Gurten und/oder der Seitenwand. Manche Anhänger enthielten Weichmacher im Sichtfenster oder der Seitenwand. Stiftung Warentest bemängelt vor allem die Folgen für die Umwelt, da PFAS sich in der Umwelt anreichern. Wir wollen die negativen Umweltauswirkungen nicht kleinreden und würden uns freuen, wenn die Anhänger keinerlei Schadstoffe enthielten. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass PFAS „in zahlreichen Verbraucherprodukten wie Kosmetika, Kochgeschirr, Papierbeschichtungen, Textilien oder Ski-Wachsen eingesetzt“ werden (so auf der Website des Bundesumweltministeriums, BMUV). Der Bereichsleiter Untersuchungen bei Stiftung Warentest, Chemiker Dr. Holger Brackemann, sagt im abgedruckten Interview ausdrücklich, dass die gefundenen Schadstoffe für Kinder „gesundheitlich nicht bedenklich sind“.
Sicherheitsaspekte: Überschlag („Kopfstand“) sehr unwahrscheinliches Szenario
Wir sprechen seit Jahren mit Eltern zur Kindermitnahme mit dem Rad. Wir bekommen auch viel von Eltern erzählt, von solchen, die sich gerade erst für einen Anhänger interessieren und von solchen, die über Jahre hinweg ihre Alltagswege mit Kind im Anhänger mitgenommen haben. Zudem haben manche Mitglieder von Fahrrad & Familie eine Studie durchgeführt zum Radfahren in der Schwangerschaft und mit Baby, in deren Rahmen eine Umfrage unter Eltern und Schwangeren durchgeführt wurde (Ergebnisse z.B. hier oder hier auf Englisch). In wenigen Fällen wurde uns von einem seitlichen Umkippen des Anhängers berichtet. Noch nie ist uns der Fall begegnet, dass ein Anhänger auf dem "Dach" landet, also eine Art Kopfstand macht. Genau dieser Fall wurde aber von Stiftung Warentest untersucht und unter der Unterschrift „Unfallsicherheit“ wurde bemängelt, dass bei vier Anhängern beim Überschlag/Kopfstand zu wenig oder kein Abstand zwischen Dummy-Kopf und Boden vorlag. Das Szenario, dass bei einem Unfall der Anhänger komplett auf dem Kopf steht, erscheint uns extrem unwahrscheinlich. Es wird in Unfallstudien auch nicht angewendet (siehe oben genannte Studie der Unfallforschung der Versicherer). Wir halten es daher für fragwürdig, dass dieses Kriterium dazu führt, dass Anhänger bezüglich der Sicherheit als mangelhaft eingestuft werden. Die Kriterien „Kippsicherheit“ und „Festigkeit des Gestells und der Deichsel“ hingegen halten wir aus unserer Praxiserfahrung heraus für relevant, da Anhänger in Einzelfällen tatsächlich mal umkippen können. Bei beiden Kriterien haben alle Anhänger bis auf einen (Deichselbruch) sehr gut abgeschnitten.
Weitere Einschätzungen: Altersangaben, Sonnenschutz
Stiftung Warentest empfiehlt, Kinder erst ab 12 Monaten im Anhänger mitzunehmen. Dies wird sehr allgemein mit „zu wenig starken Muskeln“ begründet. Im Rahmen des oben genannten Forschungsprojekts zum Radfahren mit Baby wurden Interviews mit Hebammen und Kinderärzten diesbezüglich durchgeführt. Der überwiegende Tenor war: In den ersten 6 Wochen eher nicht mit dem Rad mitnehmen (wegen nicht ausgebildeter Nackenmuskulatur), aber spätestens ab drei Monaten sind die Muskeln so weit entwickelt, dass ein Kind im Anhänger mitgenommen werden kann. Die Mitnahme in speziellem Babysitz vorausgesetzt und es soll mit vorausschauend und mit angepasster Geschwindigkeit gefahren werden. Es sollte unserer Ansicht nach eine individuelle Entscheidung der Eltern sein, ab wann sie ihr Kind im Anhänger mitnehmen, selbstverständlich unter Berücksichtigung der Herstellerangaben zum Mindestalter. Wir empfehlen zudem für die Babymitnahme einen gefederten Anhänger. Pauschal davon abzuraten, Kinder unter 12 Monaten im Anhänger mitfahren zu lassen, halten wir nicht für gerechtfertigt. Informationen zur Babymitnahme gibt es in unserer neuen Broschüre.
Bei mehreren Modellen wird von Stiftung Warentest 4 Jahre als Höchstalter empfohlen. Es ist nicht ersichtlich, woran das festgemacht wird. Hierzu wären weitere Informationen von der Stiftung Warentest hilfreich, z.B. ob sich die Altersangaben an der Körpergröße orientieren und welche maximalen Körpergrößen hier angenommen wurden.
Bei manchen Anhängern führte zur Abwertung, dass ein Sonnenschutz nicht inbegriffen ist. Ob ein Sonnenschutz inbegriffen ist oder als Zubehör dazugekauft werden kann, erscheint jedoch als Kriterium für eine Kaufentscheidung für ein bestimmtes Modell kaum relevant. Schließlich kann bei allen getesteten Anhängern einer als Zubehör erworben werden. Viele Eltern behelfen sich alternativ mit einer Stoffwindel und ein paar Wäscheklammern.
Was können besorgte Eltern jetzt tun?
- Beim vorhandenen Anhänger prüfen, bis zu welcher Körpergröße, bis zu welchem Gewicht und ab welchem Alter der Anhänger zugelassen ist und sich daran halten.
- Sich trotz PFAS-Rückständen nicht vom Anhängerkauf abhalten lassen, denn Radfahren ist nach dem Zufußgehen trotz allem das umweltfreundlichste Fortbewegungsmittel.
- Beim Kauf der nächsten Kinder- oder Outdoor-Jacke, von Zahnseide und bei Kosmetik Alternativen ohne PFAS wählen (z.B. mit der Kennzeichnung "PFAS-frei", "Fluorcarbon-frei" oder "PFC-frei"). Produkte mit dem Label "Gore-Tex" enthalten übrigens grundsätzlich PFAS.
- Kind immer richtig anschnallen. Die Gurte dürfen nicht herumbaumeln.
- Helm aufsetzen (sich selbst und dem Kind / den Kindern)
- Vorausschauend und mit angepasster Geschwindigkeit fahren
- Bei Babys oder wenn die Radwege / Straßen sehr holprig sind: lieber einen gefederten Anhänger nutzen
- sich auf unserer Seite zum Radfahren mit Baby und Kleinkind informieren
- Sich für sichere Straßen und Geschwindigkeitsbeschränkungen einsetzen – denn die eigentliche Gefahr sind nicht die Anhänger, sondern der Kraftfahrzeugverkehr
Nachtrag: DIN-Norm zu Fahrradanhängern
Laut Stiftung Warentest wurde nach den Anforderungen von DIN EN 15918 geprüft.
In Bezug auf die sogenannte Kopffreiheit wird beim DIN-Prüfverfahren der Anhänger auf den Kopf gestellt (um 180 Grad gedreht) und dann geschaut, ob der Dummy-Kopf mindestens 5 cm vom Boden entfernt ist. Hierfür gibt es drei verschiedene, genormte Dummy-Puppen: D9 (9kg schwer, 71,5 cm groß), D18 (18kg, 105 cm) und D22 (22kg, 116,5 cm). Je nachdem, bis zu welcher Körpergröße die Hersteller ihre Anhänger zulassen, wird mit der großen, der mittleren oder der kleinen Prüfpuppe getestet. Die Kopffreiheit nicht erreicht haben im Test vier Anhänger: Hamax Cocoon, Croozer Kid Vayaa 2, Thule Coaster XT und Croozer Kid Keeke 3in1.
Der Thule war bis 111 cm Körpergröße zugelassen, die drei anderen bis 117 cm, d.h. bei diesen dreien wurde mit dem größten Dummy getestet. Croozer hat inzwischen die zugelassene Körpergröße laut aktuellen Bedienungsanleitungen auf 105 cm reduziert, wir vermuten, um zukünftige Prüfungen nach der DIN zu bestehen. Andere Hersteller haben z.T. ebenfalls geringere zugelassene Körpergrößen, so dass nicht die größte Prüfpuppe verwendet wird. Ob sich in der Praxis Eltern tatsächlich genau an die Herstellerangaben halten, sei mal dahingestellt.
Die aktuelle DIN-Norm beruht auf einem StVZO Merkblatt für das „Mitführen von Anhängern hinter Fahrrädern“ aus den neunziger Jahren. Damals waren Fahrradanhänger noch nicht lange auf dem deutschen Markt und es gab dementsprechend noch wenig Erfahrung mit Anhänger-Unfällen. Anscheinend wurde damals angenommen, dass der Überschlag ein relevantes Unfallszenario darstellt.
Formal ist die Herangehensweise von Stiftung Warentest also richtig. Unserer Erfahrung nach ist das Überschlag-Szenario jedoch sehr unwahrscheinlich und berücksichtigt offenbar nicht die Erfahrungen mit Anhänger-Unfällen der letzten Jahre und Jahrzehnte. Wir sehen unsere Einschätzung darin bestätigt, dass die Unfallforschung der Versicherer den Überschlag in ihrer aktuellen Sicherheits- und Unfallstudie zum Kindertransport mit dem Fahrrad nicht untersucht.
(Ergänzung vom 2.8.2024 / Eb)